Libelle
Die Libellen (Odonata) bilden eine Ordnung innerhalb der Klasse der Insekten (Insecta). Von den 4700 bekannten Arten treten in Mitteleuropa etwa 85 auf. Die Flügelspannweite der Tiere beträgt in der Regel zwischen 20 und 110 mm, die Art Megaloprepus coerulatus kann allerdings sogar eine maximale Spannweite von 190 mm erreichen.
Der Ursprung des Namens „Libellen“ war lange Zeit ungeklärt. Eingeführt wurde der Name von Carl von Linné, der die Gruppe als „Libellula“ bezeichnete, ohne dies näher zu erläutern. Die tatsächliche Quelle des Namens wurde erst in den 1950er Jahren entdeckt. Sie stammt aus dem Werk „L'histoire entière des poissons“ von Guillaume Rondelet (1558).
Die Libellen zeichnen sich durch einen außergewöhnlichen Flugapparat aus. Die Fähigkeit, ihre beiden Flügelpaare auch unabhängig voneinander bewegen zu können, ermöglicht es ihnen, abrupte Richtungswechsel zu vollziehen, in der Luft stehen zu bleiben oder bei einigen Arten sogar rückwärts zu fliegen. Beim Flug werden Maximalgeschwindigkeiten von 50 km/h erreicht. Die Frequenz des Flügelschlages ist dabei mit etwa 30 Schlägen pro Sekunde relativ langsam.
Die großen Vorder- und Hinterflügel sind (vor allem bei den Kleinlibellen) annähernd gleich groß und weisen eine komplexe Flügeladerung auf. Dabei reicht die Spannweite der Tiere von 18 Millimetern bei Agriocnemis pygmaea bis zu 19 Zentimetern bei Megaloprepus caerulatus, Pseudostigmatidae. Da ihnen das für die Neuflügler typische Flügelgelenk fehlt, können sie die Flügel nicht nach hinten über den Hinterleib legen. Anders als bei fast allen anderen Fluginsekten setzen bei den Libellen die Flugmuskeln direkt an den Flügeln an. Stabilisiert werden die Flügel durch eine Reihe von Längsadern, zwischen denen die Flugfläche nicht plan-, sondern zickzackförmig aufgespannt ist. Im Zentrum des Flügels treffen sich diese Adern in einem Knotenpunkt (Nodus), damit sie auch bei einer Längsbeanspruchung nicht abknicken können. Am vorderen Bereich der Flügelspitze besitzen die meisten Arten ein vergrößertes und dunkel gefärbtes Flügelfeld, das als Flügelmal (Pterostigma) bezeichnet wird und das im Flug als Trimmtank durch Füllung mit Hämolymphe benutzt werden kann. Insgesamt unterscheidet sich die Flügeladerung bei den unterschiedlichen Libellenarten sehr stark, sodass sie als Bestimmungsmerkmal und zur systematischen Einordnung der Tiere genutzt werden kann.
Der Kopf der Libellen ist deutlich von den Brustsegmenten getrennt und dadurch extrem beweglich. Auffällig sind die großen Facettenaugen, die bei einigen Arten aus bis zu 30.000 Einzelaugen (Ommatidien) bestehen können. Zwischen den Komplexaugen liegen auf der Kopfoberseite außerdem drei kleine Punktaugen (Stirnocellen), die wahrscheinlich als Gleichgewichtsorgan (Horizontdetektor) und zur Kontrolle schneller Flugbewegungen dienen. Hinweise hierzu bieten Experimente an der Falkenlibelle Hemicordulia tau, deren Flug bei abgedeckten Ocellen instabil wird. Mit diesem System verfügen sie wahrscheinlich über den besten Sehsinn unter den Insekten. Die Fühler der Libellen sind borstenartig kurz und bestehen aus acht Gliedern. Ihre Funktion besteht hauptsächlich in der Ermittlung der Fluggeschwindigkeit, die sie mit Hilfe von an ihnen befindlichen Sinneshaaren bestimmen.
Die Mundwerkzeuge und besonders die Mandibeln sind kräftig entwickelt und bezahnt (daher der wissenschaftliche Name „Odonata“). Vorn werden diese von der Oberlippe (Labrum) abgeschlossen. Die Maxillen tragen jeweils einen Taster und die Unterlippe (Labium) ist zweilappig ausgebildet.
Die Brust (Thorax) der Libellen ist wie bei allen Insekten dreiteilig aufgebaut. Die beiden hinteren Brustsegmente sind sehr kräftig ausgebildet und schräg gegenüber dem ersten Segment ausgerichtet. Auf diesem Weg entsteht ein nach vorn gerichteter „Fangkorb“ aus den Beinen. Diese besitzen außerdem kräftige Klauen und sind am Unterschenkel (Tibia) meist bedornt, um die Beutetiere besser halten zu können.
Der langgestreckte Hinterleib besteht aus zehn Segmenten, die häutig miteinander verbunden sind. Durch die Länge bewirkt er eine Stabilisierung beim Flug. Die Beweglichkeit des Hinterleibes ist vor allem für die Paarung der Tiere notwendig. Die Männchen besitzen am Ende des Hinterleibs eine Greifzange aus umgebildeten Hinterleibsanhängen (Cerci), mit der sie das Weibchen bei der Paarung festhalten können. Dabei weisen die Kleinlibellen ein oberes und ein unteres Paar Hinterleibszangen auf, bei den Großlibellen ist das untere Paar zu einer Platte verschmolzen. Die Männchen besitzen am Hinterleib außerdem einen Kopulationsapparat, die Weibchen einen Eiablageapparat (Ovipositor).
Libellen sind vor allem in der Nähe von Gewässern zu finden, da ihre Larven auf Wasser als Lebensraum angewiesen sind. Besonders viele Vertreter der Großlibellen wie etwa die Blaugrüne Mosaikjungfer Aeshna cyanea fliegen zum Beutefang jedoch auch weite Gebiete abseits der Gewässer ab. Insbesondere in der Reifungsphase bewegen sich Libellen für einige Wochen abseits der Gewässer. Auch die Weibchen sind meist nicht am Gewässer zu finden, da sie sonst sofort von einem Männchen zur Paarung genötigt würden. Einige Libellenarten sind auch nicht selten in Stadtrandgebieten und durchgrünten Wohnsiedlungen anzutreffen. Nur verhältnismäßig wenige Libellen sind ausgesprochene Fließgewässerarten, vor allem in den schnell fließenden Oberläufen und im Quellbereich findet man entsprechend nur gut angepasste Tiere. In diesen Gebieten leben vor allem die Quelljungfern der Gattung Cordulegaster, deren Larven auf das sauerstoffreiche Wasser dieser Gewässer angewiesen sind. Diese findet man allerdings in den ruhigeren Bereichen hinter Steinen oder Wasserpflanzen. Die Zweigestreifte Quelljungfer Cordulegaster boltonii kann allerdings auch an langsam fließenden Gewässern gefunden werden.
Typische Bewohner der Flüsse und langsamen Bäche sind die Prachtlibellen (Gattung Calopteryx) sowie die Flussjungfern (Gomphidae). An schmalen Gräben und Wiesenbächen finden sich beispielsweise die Helm-Azurjungfer Coenagrion mercuriale sowie die Vogel-Azurjungfer Coenagrion ornatum.
Weit mehr Arten bevorzugen stehende Gewässer als Lebensraum. Sie finden sich an Tümpeln, Seen und Teichen, wo ihre Larven vor allem in den flacheren Uferzonen und zwischen Wasserpflanzen leben. Dabei sind einige Arten wie etwa die Große Pechlibelle Ischnura elegans, die Hufeisen-Azurjungfer Coenagrion puella oder die Blaugrüne Mosaikjungfer Aeshna cyanea als sogenannte Ubiquisten kaum spezialisiert, und viele Libellenlarven können auch relativ hohe Verschmutzungsgrade tolerieren. Spezialisiertere Arten wie etwa einige Heidelibellen (Gattung Sympetrum) brauchen bestimmte Typen von Kleingewässern, wie z.B. periodisch austrocknende Flachgewässer, oder gar Sümpfe.
Ein besonders gefährdeter Lebensraum sind die Moore, die ebenfalls vielen Arten von Libellen als Lebensraum dienen. Diese Arten sind an die hier existierenden Bedingungen wie den extrem niedrigen pH-Wert der Gewässer und die teilweise sehr geringen Sauerstoffressourcen angepasst und können entsprechend in anderen Lebensräumen nur schwer überleben. Auch hier leben verschiedene Azurjungfern wie etwa die Speer-Azurjungfer Coenagrion hastulatum, Falkenlibellen wie die Arktische Smaragdlibelle Somatochlora arctica sowie Mosaikjungfern wie die Torf-Mosaikjungfer Aeshna juncea. Besonders typische Moorarten sind die meisten Moosjungfern (Gattung Leucorrhinia).
„... Fast jeder dieser Weidegründe enthält einen Wasserspiegel, von Schwertlilien umkränzt, an denen Tausende kleiner Libellen wie bunte Stäbchen hängen, während die der größeren Art bis auf die Mitte des Weihers schnurren, wo sie in die Blätter der gelben Nymphäen, wie goldene Schmucknadeln in emaillierte Schalen niederfallen, und dort auf die Wasserinsekten lauern, von denen sie sich nähren.“ Annette von Droste-Hülshoff: Westphälische Schilderungen aus einer westphälischen Feder.
Libellen sind Räuber, die ihre Beutetiere im Flug fangen. Sie nutzen dafür ihre zu einem Fangapparat umgestalteten Beine, mit denen sie ihre Opfer ergreifen.
Die Beute der Libellen besteht im Wesentlichen aus anderen Insekten, wobei das Spektrum sehr groß ist. Libellen attackieren beinahe wahllos alle Tiere, die sie überwältigen können. Besonders die Männchen attackieren dabei zur Paarungszeit auch andere Libellen, manchmal sogar Angehörige der eigenen Art, zeigen also Kannibalismus. Die Jagdflüge sind dabei nicht auf die Gewässer beschränkt, sie finden auch auf Wiesen, Waldlichtungen oder anderen freien Flächen statt. Einige Arten, vor allem Libellenarten der tropischen Regionen, aber auch die heimische Grüne Mosaikjungfer (Aeshna viridis), sind ausgesprochene Dämmerungsjäger. Dabei sind sie vollständig auf ihre Augen zur Auffindung der Beute angewiesen.
Wie viele andere Insekten nutzen auch die Libellen die Sonnenwärme zur Aufheizung ihres Körpers, besonders der Muskulatur. Zu diesem Zweck setzen sich einige Arten an sonnenexponierte Stellen und spreizen ihre Flügel, um unter den Flügeln die Wärme zu speichern. Besonders bei Arten der kühleren Gebirgsregionen ist dieses Verhalten häufig zu beobachten.
Trotz ihrer Schnelligkeit haben Libellen eine große Anzahl von Fressfeinden. Besonders angreifbar sind sie dann, wenn sie sich zum letzten Mal häuten und sich aus der Exuvie arbeiten. Vor allem Frösche, Fledermäuse und Vögel fressen Libellen, aber auch Wespen, Webspinnen und Ameisen können frisch geschlüpfte Libellen attackieren und verzehren. Ebenso können fleischfressende Pflanzen wie etwa der Sonnentau (Drosera) für Libellen zur Gefahr werden. Zu den Parasiten der Libellen gehören vor allem die Larven von Wassermilben, in Mitteleuropa speziell jene der Gattungen Arrenurus und Limnochares. Die Larven der Libellen fallen vor allem anderen Libellenlarven, aber auch anderen Räubern im Wasser zum Opfer.
Die Lebensdauer der adulten Tiere beträgt bei den meisten Arten durchschnittlich etwa sechs bis acht Wochen. Manche Arten leben auch nur etwa zwei Wochen. Die längste Lebensdauer als ausgewachsene Libelle haben in Mitteleuropa die Winterlibellen (Gattung Sympecma), welche als erwachsenes Tier überwintern und dadurch zehn bis elf Monate leben. Das aktive Leben beträgt bei ihnen allerdings nur etwa vier bis sechs Monate, da sie den Winter weitestgehend in Kältestarre überdauern.
Die beiden ausgewachsenen Libellen finden sich im Flug, wobei nach einem Vorspiel das Männchen das Weibchen mit der Zange aus den beiden Hinterleibsanhängen hinter dem Kopf ergreift. Danach biegt sich das Weibchen im Flug nach vorn und berührt mit ihrer Geschlechtsöffnung am achten oder neunten Hinterleibssegment den Samenbehälter des Männchens am zweiten oder dritten Hinterleibssegment. Dabei entsteht das für Libellen typische Paarungsrad. Das Weibchen legt nach der Begattung die Eier meist in ein Gewässer ab. Dabei gibt es Arten, welche die Eier in Wasserpflanzen einstechen (endophytisch) und solche, die die Eier im Flug ins Wasser abwerfen oder unter Wasser am Substrat abstreifen (exophytisch). Andere Arten stechen die Eier in die Rinde von Bäumen am Ufer (zum Beispiel Weidenjungfer) oder werfen wie manche Heidelibellen die Eier über trockenen, möglicherweise später einmal überfluteten Senken ab. Die Eiablage kann sowohl in der Tandemstellung erfolgen als auch allein durch das Weibchen. Erstaunlich ist die Fähigkeit der Weibchen einiger Arten (zum Beispiel Prachtlibellen, Gemeine Becherjungfer), zur Eiablage bis zu 90 Minuten lang auf Tauchgang komplett unter Wasser zu gehen. Viele Arten benötigen ganz spezielle Ablagesubstrate oder Ablagepflanzen: Das Weibchen der Grünen Mosaikjungfer sticht die Eier beispielsweise nur in die Blätter der Krebsschere Stratiotes aloides ein, und viele Moorlibellen sind an das Vorkommen von Torfmoosen (Sphagnum spp.) gebunden.
Aus den Eiern schlüpfen bei beinahe allen Arten so genannte Prolarven, die sich morphologisch von den späteren Larven deutlich unterscheiden. Sie sind meist länger und ihre Beine sind nicht einsatzbereit. Die erste Häutung erfolgt daraufhin entweder in den ersten Sekunden oder in den ersten Stunden nach dem Schlüpfen.
Im Wasser sind die Larven gut angepasste Räuber und besitzen als wirksamstes Organ für diese Lebensweise eine typische Fangmaske, die im Ruhezustand unter den Kopf gefaltet wird. Ist ein potentielles Opfer in Reichweite, schnellt dieses klauenbewehrte Instrument hervor und die Beute wird gepackt. Kleinlibellen (Zygoptera) bevorzugen als Beute vor allem Mückenlarven und Kleinkrebse wie etwa die Bachflohkrebse (Gammarus spp.). Larven der Großlibellen (Anisoptera) jagen entsprechend größere Beutetiere wie kleine Kaulquappen oder Insekten und deren Larven.
Zur Atmung unter Wasser besitzen Libellenlarven zwei verschiedene Techniken, wodurch sie auf den ersten Blick unterschieden werden können: Die Kleinlibellen haben an ihrem Hinterende drei blattförmige Tracheenkiemen, mit denen sie Sauerstoff aus dem Wasser aufnehmen können. Großlibellen hingegen besitzen keine sichtbaren Kiemen, diese sind in den Enddarm verlagert (Rektalkiemen). Die Aufnahme des Sauerstoffs erfolgt hier durch ein spezielles Gewebe im Enddarm.
Die Dauer des Larvenlebens einer Libelle übertrifft jenes der daraus hervorgehenden Imago in der Regel beträchtlich: die Spanne, die einzelne Arten als Larve im Wasser verbringen, reicht in Mitteleuropa von etwa drei Monaten (zum Beispiel Frühe Heidelibelle Sympetrum fonscolombii, Sommergeneration) bis immerhin zu fünf Jahren (Quelljungfern, Gattung Cordulegaster). Eine ein- oder zweijährige Larvalentwicklung ist der am häufigsten vorkommende Fall. Dabei durchlaufen die Tiere mehr als zehn kontinuierlich größer werdende Larvenstadien, die jeweils mit einer Häutung abgeschlossen werden.
Gegen Ende des letzten Larvenstadiums verlässt das Tier das Wasser, um sich meist an vertikalen Strukturen zum Schlupf (Emergenz) senkrecht fest zu verankern. Eine Ausnahme bilden die Flussjungfern (Gomphidae), die häufig in waagerechter Position auf Kieseln oder dem blanken Boden schlüpfen. Das Spektrum der Emergenzorte reicht von Wurzelwerk, Steinen oder Fels, Büschen und Bäumen bis hin zu anthropogenen Strukturen wie Brückenpfeilern oder Bootshäusern. Am häufigsten suchen die Larven allerdings die Stängel oder Blätter von Ufer- oder Wasserpflanzen beziehungsweise Schilf zum Schlüpfen auf.
Die zur Emergenz zurückgelegte Strecke ist manchmal ganz beträchtlich. Insbesondere bei Falkenlibellen (Corduliidae) und Quelljungfern (Cordulegastridae) sind Distanzen von einigen bis vielen Metern dokumentiert, die Larven auf ihrem Weg zu einem passenden Ort für den Schlupf zurücklegten - in einem Fall (Zweifleck Epitheca bimaculata, nach Heidemann & Seidenbusch 1992) sogar mehr als hundert Meter! In der Regel erfolgt der Schlupf jedoch in direkter Nähe zum Gewässer. Dort schlüpft dann das ausgewachsene Insekt (Imago) aus der Larvenhülle, die als Exuvie zurückbleibt. Anhand der Exuvie kann bei europäischen Libellen die dazugehörige Art in fast allen Fällen problemlos bestimmt werden.